Grün, lebendig, vielfältig – weltoffen und in guter Nachbarschaft: Die Zukunft für unsere Innenstädte.

Thesenpapier der GRÜNEN Fraktion im Landtag NRW
Beschlossen am 22.06.2021

Zentren – die Herzen unserer Städte

Die europäische Stadt ist unverwechselbar. So ist unser Leitbild eine Stadt mit nutzungsgemischten Quartieren, Bestands- und Erhaltungsorientierung, kleinteiligem, schrittweisem Vorgehen, Innenentwicklung und Baulückenschließung, dichten, kompakten Stadtstrukturen — sprich, sowohl eine Stadt der kurzen Wege als auch mit partizipativen Verfahren der Stadtentwicklung.

Schon die Römer bauten Wege auf dem Gebiet des heutigen NRW, um Güter zu trans­portieren und Handel zu treiben. Diese Jahrtausende alten Wege vernetzten die Dörfer und führten zum Wachstum dieser Orte. Im Mittelalter stieg die Zahl der Stadt­gründungen rasant an. Ihre Zentren – neben der Kirche, dem Markplatz und dem Rathaus – waren als öffentliche Räume ökonomischer, kultureller, politischer und religiöser Begegnungsort einer zunehmend selbstbewussten Bürgerschaft. Hier spielten das Handwerk und die Zünfte eine herausgehobene Rolle. Hier pulsierte das Leben – und das tut es auch nach über einem Jahrtausend europäischer Stadtgeschichte immer noch.

Ohne Zweifel sollten Stadtquartiere im Sinne der 15-Minuten-Stadt weiter gestärkt werden, um dem Zielbild der durchmischten Stadt, deren Bewohner*innen Arbeitsplatz, Einkaufsmöglichkeiten, Kindergärten, Arztpraxen, Parkanlagen, Kultur- und Sportangebote in unmittelbarer Umgebung finden, näher zu kommen. Allerdings sehen sich Innenstädte ganz anderen Herausforderungen gegenüber. Als besondere Orte von Kunst, Kultur, Begegnung, Einkaufen und Gastronomie, aber auch als Raum für Wissen und Innovation prägen sie maßgeblich die Identität ihrer Städte. Wer Gutes bewahren will, muss sich verändern. Deshalb gilt es neue Wege für starke Zentren einzuschlagen.

Neben den Gebäuden in der Innenstadt ist vor allem der öffentliche Raum entscheidend für die Qualität eines Zentrums. Man trifft sich auf der Straße, im Café, bummelt und lässt sich treiben. Menschen leben in den öffentlichen Räumen. Erst dadurch wird eine mit Bäumen umrandete Fläche als Treffpunkt lebendig. In Zukunft ist es wichtiger denn je die Entwicklung der Innenstädte aus der Perspektive der Nutzer*innen zu denken. Eine Option ist es auch stärker auf die regionale Versorgung mit Lebensmitteln und die Tradition von Märkten und Markthallen zu setzen.

Innenstädte in der Krise

Der öffentliche Raum Stadt verändert sich rasant wegen tiefgreifender (globaler) ökonomischer, ökologischer und sozialer Veränderungen und Verwerfungen.

Veränderungen am Immobilienmarkt

Die globale Finanzkrise 2008 und die Niedrigzinspolitik veränderten den Immobilien­markt grundsätzlich. Grundstücke und Gebäude in den Innenstädten werden seitdem ex­plizit zur Geldanlage gesucht und genutzt. Der öffentliche Raum gerät zunehmend in Bedrängnis kommerziell verwertet zu werden. Dadurch schwinden die Flächen, die in die Gestaltungshoheit der Kommunen fallen. Inhabergeführte Geschäfte werden weniger und teilweise ersetzt durch Filialen von Handelsketten. In größeren Städten erleben wir auch Veränderungen in der Besitzstruktur. Eigentümer*innen von Grundstücken und Gebäuden sind dort ver­mehrt Fonds- und Kapitalgesellschaften. So verlieren wir mehr und mehr die gewach­sene Beziehung zwischen ortsansässigen Eigentümer*innen und Innenstadt, die diese in besonderer Weise zu ihrer Stadt haben und pflegen.

Die letzten Jahrzehnte sind auch von einer Ausweitung von großen Handelsflächen auf die ganze Stadt geprägt. Großmärkte, Outlet-Center und Discounter siedelten sich auf der grünen Wiese an – ausgehend von der früheren Maßgabe der Funktionstrennung gemäß der damaligen Planungsideologie, die durch Verwaltungen und politische Mehrheiten getragen wurde – und schwächten damit die Funktion der Innenstädte als Handels­ort für die Produkte des täglichen Bedarfs. Eine weitere Ursache für die Abnahme von Gewerbe­flächen oder für die Zunahme von Leerständen in Innenstädten liegt auch in den hohen Mieten in den Zentren. Laut IVD West sind die Gewerbemieten in NRW unterschiedlich1. In Großstädten sind die Einzelhandelsmieten in Spitzenlagen konstant hoch. Im Gegen­satz dazu kommt es andernorts zu einer Verödung von Zentren: Nicht mehr zeitge­mäße Immobilien sowie renditeorientiere Eigentümer*innen, die zu wenig umbauen und da­mit Umnutzungen nicht ausreichend unterstützen, führen zu Leerstand und Unternut­zung der Gebäude und der Innenstadt.

Digitalisierung: vom Marktplatz ins Netz

Der stationäre Einzelhandel verliert seit einigen Jahren in seiner Rolle als bestimmende Größe für die urbanen Zentren an Bedeutung. Diese Herausforderung macht eine große Anstrengung der Stadtentwicklung notwendig. In den Nullerjahren war der Hauptbesuchsanlass noch (je nach Stadtgröße) zu 70 bis 80 Prozent das Einkaufen. Heute sind es 50 bis 70 Prozent. Bei Mittelstädten liegt der Anlass zum Besuch der Stadt nur noch etwa zur Hälfte im Einkaufen. Die Funktion des Einzelhandels ist nach wie vor zentral, aber erheblich schwächer. Bei einer Umfrage in Innenstädten gab jede*r Fünfte an, künf­tig verstärkt online einzukaufen und aus diesem Grund die Innenstadt seltener zu besu­chen (IFH Köln)2. Die Krise des stationären Einzelhandels wird in Schließungen großer Filialen wie Karstadt und Kaufhof besonders sichtbar. Er wird durch die Digitalisierung und verstärkte Nutzung des Online-Angebots massiv herausgefordert – auch weil die großen Digitalkonzerne ihre durch Steuervermeidungsstrategien, Flächeninanspruchnahme auf der grü­nen Wiese, Lohndumping und ökologisch schädliche Logistik erworbene Marktmacht ausnutzen. Das Geschäftsmodell wird gänzlich zur Perversion, wenn sich in 1A-Lagen der Innenstädte Outlet-Center des großen Online-Handels ansiedeln und neben dem Abverkauf ihrer Posten auch ihre Rückläufe dort zu Ramschpreisen anbieten.

Nicht nur das klassische Gütergeschäft (Textilien, Elektrogeräte usw.) findet immer stärker online statt. Auch viele Dienstleistungen werden inzwischen nicht mehr in Ladenlokalen sondern im Netz getätigt: Dazu gehören z.B. die Reise- & Tourismusbranche, aber auch Banken und Versicherungen.

Zugleich nutzen aber auch immer mehr kleine Händler*innen oder das Handwerk die Möglichkeiten der Di­gitalisierung, anstatt sich allein auf langjährige Forderungen wie mehr Parkplätze und verkaufsoffene Sonntage zu beschränken. Viele lokale digitale Vertriebskonzepte sind der exakte Gegenentwurf zu Amazon und Co. Sie verbinden die Beratungsleistung des stationären Handels mit innovativen Servicekonzepten wie etwa taggleicher Lieferung durch Lastenfahrräder. Zudem enthalten einige Konzepte Ansätze, um vormals reine Online-Händler*innen bei ihrem Weg in den stationären Handel zu unterstützen.

Innenstädte im Klimastress

Die Herausforderungen der Städte durch den Klimawandel sind riesig: Gebäude müssen energetisch saniert werden, Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energien gehören zu­nehmend zum Stadtbild, öffentliche Räume müssen sich dem Klimawandel anpassen und Alleen mit starken Bäumen müssen als Frischluftschneisen geschützt werden Die Mobilitätswende muss sich im Bild der Zentren widerspiegeln. In den nächsten 30 Jahren gilt es, das System Stadt neu zu gestalten und dabei Maß zu nehmen an den Zie­len nachhaltiger Entwicklung (wie zum Beispiel den Sustainable Development Goals) und dem Pariser Abkommen von 2015.

Demografische Verschiebungen

Demografische Trends – Alterung, Migration und Bevölkerungsrückgang – beeinflussen die Entwicklung der Städte und ihrer Innenstädte. Neben einer veränderten Nachfrage im Einzelhandel und bei verbrauchernahen Diensten des Handwerks kommt es insgesamt zu einem differenzierten Prozess: In Mittel- und Großstädten werden die Innenstädte als Wohnort nach Jahren des Bevölkerungsverlustes wieder attraktiver. Ausschlaggebend für diesen Trend ist vor allem die Altersklasse der 18- bis 29-Jährigen. Gerade Auszubil­dende bzw. Berufseinsteiger*innen zieht es in die Innenstadt. Vor diesem Hintergrund ist allerdings abzusehen, dass der Trend „zurück in die Innenstadt“ sich nicht selbst trägt, da der Anteil der 18- bis 29-Jährigen innerhalb der Bevölkerung schrumpft. Für den Handel in den Innenstädten sind die Aussichten schlechter. Eine aktuelle Studie des IFH Köln zeigt: Innenstadtbesucher*innen werden immer älter.3 Das Durchschnittsalter liegt mittlerweile bei 47 Jahren. Die jüngeren Verbraucher*innen bleiben weg. Das An­gebot in den Fußgängerzonen kommt bei ihnen nicht mehr wirklich gut an.

Das Brennglas: Die Corona-Krise

Durch die Corona-Pandemie müssen wir weitere Schließungen im Einzelhandel in den Innenstädten erwarten. Es wird wegen vermehrtem Homeoffice ein Rückgang beim Be­darf an Büroflächen entstehen. Doch dies kann auch die Chance bieten, dass Flächen für Wohnen und andere Nutzungen frei werden. Dort wo überhöhte Preise die Innenstadt­entwicklung bisher hemmen, eröffnen sich gegebenenfalls Möglichkeiten für kreative Nutzungen – mehr Grün, weniger Konsum, mehr Begegnungen. Wo Filialen geschlossen werden, ergibt sich die Chance den inhabergeführten Einzelhandel wieder in den Innenstädten zu zentrie­ren.

Kurz: Die Stadt ist in der Krise. Es liegt an uns, diese Krise als Chance zu begreifen und zu nutzen. Es geht um nicht weniger als darum, unsere Städte neu zu (er-)finden. Es geht um die Transformation von Urbanität.

Die urbane Transformation kann beginnen

Unsere Innenstädte haben es also mit einem ganzen Bündel an Veränderungen und In­fragestellungen zu tun. Für die Städte und Kommunen bietet sich die Chance ein eigenes, neues Profil zu entwickeln. Mit den steigenden Konsummöglichkei­ten breiter Bevölkerungsschichten und einer „bunteren Zusammensetzung“ der Bevölke­rung hat die Vielfalt an Gastronomieangeboten in den letzten Jahrzenten deutlich zuge­nommen. Einen großen Mix an Angeboten von Kultur und Kreativwirtschaft finden wir vor allem in den Städten, die vom studentischen Leben geprägt sind.

Die Innenstadt ist aber mehr als die Summe ihrer Nutzungen – auf die Menschen kommt es an. Eine nachhaltige Stadtentwicklung verbindet soziale und ökologische Planungs­ansätze und stellt die Teilhabe der Menschen mit dem Ziel einer „Stadt für alle“ in den Mittelpunkt. Die Corona-Pandemie treibt auch neue Blüten: Der öffentliche Raum wird zurückerobert. Insbeson­dere bei schönem Wetter lebt die Stadt auf und wir erleben vielfältige kreative Projekte: Temporäre Spielstraßen, Nachbar­schaften, die gemeinsam Blumenbeete bepflanzen, mehr Menschen treffen sich in Parks und auf Plätzen. Leerstände werden zu Working Places umgenutzt. In Gesellschaft und Medien wird die Renaissance des öffentli­chen Raums diskutiert, bespielbare Innenstädte und nachhaltige Mobilität sind im Fo­kus. Die Akteur*innen in den Innenstädten rücken zusammen und öffnen sich für Experi­mente und eine neue Planungskultur.

Wenn wir diese Ansätze ausbauen, bietet sich uns die Chance, global einen Beitrag zum Klima zu leisten und vor Ort lebendige, vielfältige, grüne Innenstädte zu schaffen.

Grüne Zukunftsinitiative Innenstadt

Es ist die Kraft der Vielfalt, die den Fortschritt bringt.“

Integriert, gemeinwohlorientiert und resilient

  1. Als Reaktion auf die Corona-Pandemie wurden von verschiedensten Ebenen viel­fältige Unterstützungsangebote für Selbstständige, Handelsketten, Gastronomie und Kommunen geschaffen. Zukünftig muss die Transformation der Innenstädte als dauerhafte Gemeinschaftsaufgabe bewältigt werden. Es braucht integrierte Planungsansätze, die neben der Verwaltung auch Wirtschaft, Zivilgesellschaft und andere zu handelnden Akteur*innen machen..
  2. Die Pandemie hat gezeigt, dass es einer stärkeren Gemeinwohlorientierung bei der Gestaltung unserer Städte und Gemeinden bedarf, die sich nach den konkreten Bedürfnissen der Bürger*innen ausrichtet. Dazu gehört auch, die Menschen stärker in die Stadtentwicklung einzubeziehen. Immer häufiger fordern Bürger*innen mehr Mitsprache bei der Gestaltung ihrer Stadt. Oder sie werden selber zu Stadtmacher*innen, indem sie Brachflächen umgestalten oder Gebäude für die Gemeinschaft öffnen und damit etwas zum Gemeinwohl in ihren Städten beitragen (vgl. Neue Leipzig Charta)4.
  3. Innenstädte sind mehr als Beton und Stahl, Denkmäler und Infrastruktur. Neben der Gestaltung des materiellen Ortes wollen wir auch Zentren, die eine Verbin­dung zu immateriellen Dingen bieten. Menschen finden ihr Glück in Familie, Freund*innen, Gemeinschaft, Natur – auch das muss in der Innenstadt der Zukunft Teil des Angebots sein.
  4. Die Innenstädte müssen widerstandsfähiger gestaltet werden. Die sogenannte Resilienz bedeutet, krisenfest zu sein. Angesichts der o.g. Herausforderungen ist es notwendig, künftige Gewinne nicht mehr vollständig zu kapitalisieren, son­dern Reserven dazu zu nutzen, die Immobilien und die Innenstädte zu stärken. Zum Beispiel könnten Vermieter*innen aus Mietrücklagen at­traktive Zwischennutzungen unterstützen.

Nutzungsmix: Ein eigenes Profil – in guter regionaler Nachbarschaft

5. Jede Stadt muss selbst aktiv planerische Stadtentwicklung betreiben und dabei geht es nicht nur darum das eigene Profil zu verändern, zu entwickeln oder zu stärken, sondern dies auch in regionale Abstimmung einzupassen. Beispielhaft sind hier regionale Einzelhandelskonzepte, Planung von Stadt-Umland-Bezie­hungen und die notwendigen Kooperations- und Planungssynergien in der Metropolregion Ruhr zu nennen.

6. Die Resilienz von Innenstädten wird durch Nutzungsmischung gesteigert – je mehr verschiedene Nutzungen vor Ort sind, desto geringer die Abhängigkeit von einer Branche.

7. Lebendige Innenstädte sind je nach Standort gekennzeichnet durch ver­schiedenste Nutzungen. Das Nebeneinander von scheinbar sich ausschließenden Nutzungen wie Außengastronomie, Handwerk und Wohnen muss rechtssicher ermöglicht werden. Das Instrument, in urbanen Gebieten eine Quote für Gewerbe vorzusehen, bieten einen guten Ansatz. Um die Durchmischung zu gewährleisten, kann dies weiter ausdifferenziert werden. Die Verdrängung von kleinräumigen Gewerbestandorten zugunsten von mehr Wohnraum dient nicht der Entwicklung der Innenstädte. Vielmehr sollte vor Ort ein vielfältiger Mix folgender Nutzungen die Innenstadt aufwerten:

  1. Handel – auch in Form von Märkten und Markthallen, insbesondere inha­bergeführt
  2. Kulturangebote (z.B. Kinos, Theater, Open-Air-Veranstaltungen)
  3. Gastronomie (vielfältig, lebendig, bei Wohnnutzungen v.a. auch Tages­gastronomie)
  4. Wohnraum (attraktiv verdichtet und bezahlbar)
  5. Büroflächen (mehr Coworking Spaces)
  6. Urbane Produktion und Handwerk (z.B. Neue Manufakturen, traditio­nelle Handwerke und Dienstleistungen wie Elektriker*innen und andere Baugewerke)
  7. Kreativwirtschaft und Bildungsangebote (z.B. durch ein Zusammenwach­sen von Innenstädten und Hochschulen, denn gerade an Standorten, wo Hoch­schulen auf der grünen Wiese angesiedelt sind, ergeben sich Chancen für beide Seiten)
  8. Pflegeangebote (z.B. Therapieangebote oder Quartiersberatung) und Dienstleistungen (Behörden, Fahrradparkhäuser, Paketstationen)
  9. Begegnungsorte – auch als Ansatz für mehr Integration (z.B. auch kon- sumfreie Orte mit ökonomischer Nutzung kombiniert)
  10. Grünflächen – z.B. Mikroparks, die das Stadtklima positiv beeinflussen.

8. Dieser Mix von Nutzungen sollte sich auch innerhalb von großen Gebäuden zei­gen. Wo aktuell ein Kaufhaus leer steht, kann künftig ein Mix aus Handel, Büro und Wohnen die Resilienz der Immobile und damit wiederum diejenige der ge­samten Innenstadt steigern. Hierfür bedarf es einer neuen Umbaukultur, rechtlichen Möglichkeiten für kreative Umbauten und dem Angebot von kleinteiligen Handelsflächen.

9. Öffentliche Räume und Fußgängerzonen in den Innenstädten müssen als Le­bensraum für alle Menschen weiterentwickelt werden, z.B. durch inklusive Aufenthalts- und Begegnungsorte, bespielbare Stadträume sowie die Gestaltung mit Skaterflächen.

  1. Die Interessenslagen erweitern sich durch den Nutzungsmix. Die Stadtgesellschaft steht vor der Herausforderung, die geforderte Nutzungsmischung im Alltag zu leben. Dies muss gemeinsam gemeistert werden, z.B. mit Bür­gerräten für Innenstädte oder sogenannten Nachtbürgermeister*innen in belebten Ausgehvierteln. Es braucht eine sorgfältige Abwägung im Lärmschutz in den Innenstädten – ei­nerseits soll der Anwohnerschutz gewahrt werden und zugleich eine Nutzungs­mischung in den Innenstädten möglich sein.
  2. Veränderte Lebensstile und Konsummuster führen zur Nachfrage nach neuen und vielfach nachhaltigen Angeboten. Gesucht wird wieder eine Schusterei an­statt eines neuen billigen Schuhs.
  3. Vielfach wird vor Ort versucht, mit möglichst vielen Events und Attraktionen die Menschen in die Innenstädte zu locken. Doch hier gilt es, auf die Zielgruppen zu achten. Je nach Ort gibt es eine wachsende Zahl von Innenstadtbesucher*innen, die von diesem „Rummel“ Abstand nehmen oder die regionale, saisonale Gastro­nomieangebote einer Schnellrestaurant-Kette vorziehen.

Handlungsfähige Kommunen

  1. Künftig sollten Kommunen zentrale Akteurinnen werden, indem sie das vorhandene Wissen bündeln und die Entwicklung der Innenstadt koordinieren. Sie sollen beispielsweise die Schaffung von Flächen für weniger zahlungskräftige Nutzungen aus Kultur und Handwerk unterstützen. Ihre Aktivitäten sollten in übergeordnete Stadtentwicklungs- und Gewerbeentwicklungspläne eingebettet sein. Kommunale Haushalte müssen hierfür gestärkt werden; nur so wird eine aktive Teilhabe am Immobilien- und Grund­stücksmarkt und damit eine aktive, präventive Boden- und Liegenschaftspolitik möglich. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie mit Gewerbesteuerausfällen und zusätzlichen Ausgaben behindern und erschweren die notwendige Transformation der Innenstädte.
  2. Vielerorts haben die Kommunen nur noch mit Fördergeldern überhaupt Hand­lungsfähigkeit bei der Gestaltung der Innenstädte – doch dabei fehlt es an der Freiheit für individuelle Lösungen, denn Limitierungen im Handlungsrahmen, ein hoher Aufwand bei der Antragsstellung sowie zeitgleiche Entwicklun­gen in Nachbarkommunen, die zu Konkurrenzen führen können, zeigen die Nachteile von Aktionsprogrammen. Idealerweise hätten die Kommunen konjunkturunabhängig und kontinuierlich ausreichende finanzielle Mittel für ihre notwendigen Investiti­onen.
  3. Mangels finanzieller und personeller Ausstattung gab es in den vergangenen Jahrzehnten wenig „große Würfe“ von Seiten der kommunalen Stadtentwicklung. Vielfach wurde in der Vergangenheit die Entscheidung über Stadtentwicklung in private oder (halb)öffentliche Gesellschaften, Unternehmen und öffentliche Spar­kassen verlagert, da hier ausreichend Personal zur Verfügung stand. Mit entsprechender Personalausstattung können Kommunen nicht zuletzt auch wieder Vorsorgeplanungen in Form von Bebauungsplänen vorantreiben, statt zu viel den §34 des BauGB und damit nur orientiert an der vorhandenen Bebauung weiter zu entwickeln.
  4. Es bedarf der Stärkung der kommunalen Haushalte inkl. kurzfristiger Perspektive zur Entschuldung der Kommunen, z.B. durch einen Altschuldenfonds. Außerdem bedarf es einer po­litischen Verständigung dringend notwendige Zukunftsinvestitionen jetzt tätigen zu können und zu müssen. Dann können Kommunen wieder mehr Investitionen tätigen und ihre Städte selbst gestalten.
  5. Neben einer umfassenden fachlichen Kompetenz und einem erhöhten Budgetansatz für Planer*innen vor Ort muss auch die Attraktivität des Öf­fentlichen Dienstes insgesamt gesteigert und mit zielgruppenorientiertem Mar­keting beworben werden. In der öffentlichen Verwaltung sollten vermehrt duale Ausbildungen/Studiengänge angeboten werden.
  6. Zur Handlungsfähigkeit der Kommunen gehört auch ein Rechtsrahmen, der es ermöglicht im Bedarfsfall Eigentümer*innen zur Durchführung von Maßnahmen an Gebäuden zu bringen. Die Bau­gebote nach dem BauGB sind auszunutzen und weiter auszubauen. Vorkaufs­rechte und Erbpachten müssen vermehrt von Kommunen genutzt werden, um selbst wieder die Entwicklung der Innenstädte mitzubestimmen.

Kommunen gegen Einzelinteressen stärken

  1. Leerstände und Teilleerstände, die heute von manchen Vermieter*innen aus kalkulatorischen Gründen in Kauf genommen werden, führen spätestens ab 20 Prozent der Innenstadtfläche zu Abwärtsspiralen. Diese Quote wird heute in vielen Städten schon übertroffen. Um dies zu verändern, sollen die Kommunen rechtlich ,finanziell und personell so ausgestattet wer­den, dass sie aktives, präventives Leerstandsmanagement betreiben können (z.B. rechtliche Sicherung von Gewerbeflächen, vertragliche Verpflichtungen zur Nutzungsmischung bei großen Neubauten oder die Deckelung von Gewerbemieten).
  2. Sogenannte Problemimmobilien oder Schrottimmobilien sind nicht dem Standort und dem Gebäude angemessen genutzt und vielfach gekennzeichnet durch bauliche Miss­stände (Verwahrlosung). Dies hat negative Auswirkungen auf das Umfeld. Daher müssen derartige Gebäude in Innenstädten (wo möglich) umgenutzt oder (wenn nötig) abgerissen werden, um Platz für zukunftsfähige Nutzungen des Gebäudes oder der Fläche zu schaffen.
  3. Den (Zwischen-)Erwerb bzw. die Anmietung von Flächen durch Kommunen gilt es von Seiten des Landes im Sinne einer aktiven Stadtentwicklungspolitik der Kommunen zu befördern. Auf Bundesebene müssen die kommunalen Zugriffsmöglichkeiten auf (Schlüssel-)Immobilien rechtlich verbessert werden (z.B. durch die Ausweitung der Regelungen im BauGB zugunsten von Zwischennutzungen und der Behebung von langwierigen Leerständen ). Dabei sollten die Kommunen jedoch nicht nur im eigenen Interesse mit Grundstückseigentümer*innen verhandeln, sondern vielmehr in der Rolle der Vermittlung zwischen Interessierten und Eigentümer*innen agieren.

Attraktive Zentren für die Menschen zurückerobern

  1. Es braucht eine klare und verbindliche Abgrenzung der Zentren in der Planung der Kommunen. Einzelhandelsstandorte auf der grünen Wiese und Überkapazitä­ten andernorts sind zugunsten einer Konzentration auf die Innenstadt zu verhin­dern.
  2. Ziel ist es, dass die Menschen sich den öffentlichen Raum wieder aneignen können. Die Neunutzung und Umnutzung von Leerständen bietet Potential für die Weiterentwicklung der Städte. Ebenso müssen Freiflächen und auch Verkehrsräume in den Fokus gerückt werden. Parkraum kann beispielsweise für Außengastronomie umgenutzt werden, Fußgängerzonen laden zum Aufenthalt ein.
  3. Gestalterisch attraktive und qualitätvolle Architektur und öffentliche Räume sind die bauliche Grundlage für Verweilqualität und eine Wohlfühlatmosphäre. Wichtig ist, die öffentlichen Räume so zu gestalten, dass sich auf überschaubaren Plätzen und Gassen Menschen begegnen können und das Tempo und die Entfernungen in der Innenstadt an Fußgänger*innen orientiert wird. Folge einer guten Stadtplanung ist, dass die Menschen sich in ihren Zentren wohl und sicher fühlen.

100 Prozent mobil in der Stadt der kurzen Wege

  1. Innenstädte müssen mit allen Verkehrsmitteln erreichbar sein – egal ob zu Fuß, mit dem Rad, dem Bus oder Auto. Aber die Gestaltung der Innenstädte darf sich nicht länger rein an den Bedürfnissen des motorisierten Individualverkehrs orientieren. Hohe Aufenthaltsqualität und Erreichbarkeit für Alle sind die Ziele.
  2. Zukunftsfähige Innenstädte benötigen nachhaltige Verkehrskonzepte, die den Autoverkehr in den Stadtzentren unter anderem durch „Smart Parking“, intelligente/effiziente Parkraumbewirtschaftung, Verkehrslenkung und Förderung von Fuß- und Radverkehr sowie Bus und Bahn stark reduzieren. Die Barrierefreiheit muss sich durchsetzen. Aktive Fußverkehrsplanung steigert die Teilhabemöglichkeiten aller.
  3. Indem man Stellplätze im öffentlichen Raum abbaut und den vorhandenen Stra­ßenraum neu aufteilt, werden Innenstädte attraktiver und für alle Verkehrsteil-nehmer*innen erschlossen. Notwendige Parkflächen sollten wenn möglich in Form von Park&Ride-Plätzen am Rande der Stadtkerne liegen und kurze Fahrten mit dem ÖPNV in die Innenstadt sollten zu möglichst günstigen Preisen angeboten werden.
  4. In den Zentren zeigen sich dann die Vorteile neuer Mobilitätskonzepte zwischen Rad, Fußgänger*innen, ÖPNV und dem Autoverkehr. Verkehrsberuhigung und die Begrenzung des Durchgangsverkehrs steigern die Aufenthaltsqualität. Auch der Einzelhandel kann von autofreien oder autoarmen Innenstädten profitieren. Moderne Mobilität kennzeichnet sich z.B. auch durch Shuttlebusse, autonome Fahrzeuge und alternative Antriebe. Mittlerweile sprechen sich viele Einzelhändler*innen für eine Reduzierung des Autoverkehrs in den Einkaufsstraßen aus, weil sich die höhere Aufenthaltsqualität für ihre Kund*innen auch auf den Umsatz positiv auswirkt. Diesen Effekt belegen auch wissenschaftliche Studien.5

Gemeinsam kreative Lösungen finden

  1. Innenstädte sind individuell. Je nach Stadt gilt es daher, individuelle Zukunfts­konzepte zu entwickeln. Die Kreativität vor Ort ist gefragt.
  2. Lebendige und attraktive Innenstädte zu schaffen ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Partizipationsprozesse steigern die Planungsqualität und ermöglichen es, pass­genau zu gestalten. Dafür müssen wir die ganze Breite der Zielgruppen erreichen – nur so können die Zentren zum Identifikationsort für alle werden.
  3. Der barrierefreie Ausbau der Innenstädte dient allen Menschen. Eine Innenstadt mit möglichst wenig (baulichen) Barrieren ist für Menschen mit körperlichen Ein­schränkungen, aber auch für Menschen mit Kinderwagen und Rollatoren ein Gewinn. Darüber hinaus sollten Städte auch in Hinblick auf akustische oder visuelle Einschränkungen gestaltet werden.
  4. Netzwerke wie Standortgemeinschaften (ISG) müssen zu umfassenden Zukunfts­stätten weiterentwickelt werden. Gemeinsam mit allen Nutzer*innen müssen ge­eignete Aktivitäten zur Stärkung der Innenstädte auf den Weg gebracht werden. Dazu zählt auch eine Verständigung mit Immobilieneigentümer*innen zu einer auf die Geschäftssituation und eine attraktive Nutzungsmischung ausgerichteten Mietenpolitik.
  5. Zur lokalen Beratung, Vernetzung und vertieften Zusammenarbeit von kleinen Geschäftsleuten, Gastronom*innen und Gewerbetreibenden sollten von Seiten der Kommunen Angebote geschaffen oder ausgebaut werden. Diese dienen sowohl der Professionalisierung, Attraktivitätssteigerung und zukunftsfähigen Ausrichtung sowie der Erhö­hung der innerstädtischen Aufenthaltsqualität. Digitale Formate der Bürgerbeteiligung werden seit der Corona-Pandemie mehr genutzt. Dies sollte weiterhin genutzt werden – auch für formale Beteiligungsverfahren.

Grüne Infrastrukturen stärken

  1. Kommunen müssen es sich vermehrt zur Aufgabe machen, ihre Innenstadtent­wicklung auf den Klimaschutz auszurichten. Es geht dabei um die Reduktion kli­marelevanter Treibhausgase und auch um die Klimafolgenanpassung. Erfolge der kommunalen Klimapolitik zeigen sich insbesondere dort, wo breite Akteursbündnisse Impulse für private Sanierungsaktivitäten auslösen.
  2. Durchgrünte Innenstädte sind ein Beitrag zum Klimaschutz, sie laden zum Verweilen ein, dienen der menschlichen Gesundheit und der Biodiversität vor Ort. Verpflichtende Grünflächenplanung auf kommunaler Ebene kann dieses Potential aufzeigen und erschließen.
  3. Projekte wie essbare (Innen)Städte und Urban Gardening steigern die Qualität der städtischen Freiraumnutzung und die Zukunftsfähigkeit unserer Städte und Gemeinden.
  4. In Wachstumsstädten wächst der Druck auf Grünflächen, Innenstädte sind per se unterversorgt. Die Pro-Kopf-Versorgung sollte daher in jeder Innenstadt in NRW ausgebaut werden.

Digitalisierung nutzen

  1. Kommunen nehmen den Zugang zu Daten zwar insgesamt mehr und mehr als wichtige Ressource u.a. für die eigene Planung und Steuerung wahr. Hier gibt es aber je nach Standort weitere Möglichkeiten, die Instrumente der Smart Cities für die Entwicklung der Innenstädte aufzugreifen. Die Chancen der Digitalisierung bei der Transformation der Innenstädte müssen unter Berücksichtigung des Da­tenschutzes genutzt werden.
  2. Beteiligungsverfahren sollen digitalisiert und Transparenz durch digital bereitge­stellte Informationen ausgebaut werden. Digitale Tools können helfen, Pla­nungsprozesse und -inhalte noch adressatengerechter zu kommunizieren, indem Informationen bereitgestellt oder Formen der Kommunikation, Vernetzung, Kon­sultationen und Beteiligung verbessert werden.
  3. Der stationäre Handel sollte unterstützt werden, um offline mit online zu verbin­den (z.B. Online-Schaufenster mit Abholmöglichkeit vor Ort und Anprobe vor Ort „Click and Collect“, dann Bestellung nach Hause und taggleiche Lieferung) wie es zum Beispiel seit 2015 vom Land mit einem Förderprogramm unterstützt wird. Das Handwerk zum Beispiel kann nicht nur die Digitalisierung seiner Kundschaft unterstützen, sondern sich auch selbst immer stärker digitalisieren. Netzwerke vor Ort (mit Kammern, Handelsverband, Wissen­schaft und weiteren Akteur*innen) sollten zukünftig vermehrt gemeinsame übergreifende Digitalisierungsstrategien entwi­ckeln.
  4. Digitale Park- und Fußgängerleitsysteme können die Attraktivität der Innen­städte steigern. Ziel ist, dass die Menschen einerseits schnell und sicher an ihr Ziel kommen und zugleich der Bummel in der Innenstadt so wenig wie möglich gestört wird.
  5. Der Handel sollte vermehrt smarte Logistikkonzepte nutzen, sowohl für Anliefer-verkehre zu den Geschäften als auch zur Kundschaft. Das reduziert die Verkehre in den Innenstädten und gibt Raum für die Entwicklung.
  6. Im Rahmen der Bemühungen auf nationaler und europäischer Ebene die Markt­macht der großen E-Commerce-Konzerne zu begrenzen, sollte auch eine Diskus­sion geführt werden, wie eine stärkere Einforderung von Beiträgen der großen Online-Plattformen zu Standortgesellschaften und kommunalen Gemeinschafts­anstrengungen zur Stärkung der Innenstädte gelingen kann.

Experimente wagen

  1. Experimentelle und handlungsorientierte Planungsansätze und -verfahren, z.B. in Form von Reallaboren, sind insbesondere in Krisenzeiten ein wichtiger Baustein zur Transformation der Innenstädte. Es kann dabei vielerorts auf Erfahrungen bei bereits durchgeführten Zwischennutzungen zurückgegriffen werden.
  2. Insbesondere muss ausprobiert werden, mit welchen Rahmenbedingungen Eigentümer*innen motiviert werden können, neue vielfältige Nutzungen, auch mit Gemeinwohlorientierung ökonomisch möglich zu machen.
  3. Internationale und lokale Netzwerke aller örtlichen Akteur*innen sollen genutzt werden, um weitere Experimente zu initiieren. Diese Partnerschaften können in­teressante Anregungen zur Entwicklung der Innenstädte bringen und gemeinsam lässt sich Neues wagen.


Hinweis:
Die Sammlung guter Beispiele gibt es hier.

1 https://west.ivd.net/nrw-bueromieten-leicht-verteuert-ladenmieten-weiter-unter-druck/

2 https://www.ifhkoeln.de/online-vs-offline-deutsche-innenstaedte-von-frequenzverlusten-betroffen/

3 https://www.ifhkoeln.de/innenstaedte-so-sieht-der-typische-besucher-aus/

4 https://www.bmi.bund.de/DE/themen/bauen-wohnen/stadt-wohnen/stadtentwicklung/neue-leipzig-charta/neue-leipzig-charta-node.html

5 https://www.clevere-staedte.de/projekt/f%C3%BCr-den-verband-deutscher-verkehrsunternehmen-umweltverbund-bringt-einzelhandelsumsatz